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21.09.2025
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Senftenberg
Verlag: Robert Lehmann,
Senftenberg N.L.
Aufnahme <= 1911
Sammlung Matthias Gleisner

Schön! Es gibt sie also immer noch: die mir völlig unbekannten historischen Ansichtskartenmotive. Von Senftenberg generell und von der Bahnhofstraße im Besonderen. Nach 15 Jahren Beschäftigung mit der Materie denkt man zeitweilig schon alles gesehen zu haben. Doch das Schöne am Ansichtskartensammeln ist ja, daß man nie so genau weiß, was als Nächstes um die Ecke kommt. Es gibt ja - anders als beim Sammeln von Briefmarken oder Matchbox-Autos - kein vollständiges Register, in dem alle jemals produzierten Stücke gelistet sind und anhand dessen man sich entlang hangeln kann. Zwar habe ich in den vergangenen Jahren eine solche Auflistung für Ansichtskarten mit Senftenberger Motiven erstellt, die anderen Sammlern einen ganz guten Überblick verschafft, was da alles so kreucht und fleucht, aber ich würde diese Übersicht nie und nimmer "umfassend" nennen. Hierfür ist mein Wunschzettel noch viel zu lang und es passieren auch - Gott sei Dank! - einfach immer noch zu viele Überraschungen wie das unvermittelte Erscheinen des Stückes ganz oben.

Die Karte selbst - in einem damals offenbar recht beliebten "Holzrahmen-Design" - führt uns vor Augen, wie schön dieser Bereich, der heute anders als damals eine vollwertige Kreuzung darstellt, dereinst ausgesehen hat. Der 2. Weltkrieg bescherte gerade diesem Abschnitt herbe Verluste. So wurde das ehemalige Warenhaus von Nathan Klein (links im Bild) und "Flemmings Häuser" (rechts) entweder durch Bombentreffer oder Brandschatzung irreparabel beschädigt.
Während an Stelle des Klein'schen Geschäftshauses später ein Neubau die Lücke füllte ist der Bereich der ehemaligen Häuser des Malermeisters Flemming bis zum heutigen Tag durch eine Freifläche mehr schlecht als recht ersetzt worden. Gemeint ist der sogenannte "Postparkplatz", der diesem Namen mittlerweile auch nicht mehr gerecht wird, denn die einstmals gegenüber befindliche Hauptpost gibt es ja auch schon seit Jahren nicht mehr. Zumindest nicht als Post.

Das nächste Stück aus etwa der gleichen Zeit (1911) zeigt uns die Bahnhofstraße in Richtung Norden. Hier erkennt man, daß es einstmals größere Baulücken entlang der Straße gab. Links sowieso. Doch auch rechts fehlt im Vordergrund noch ein Haus, das zwar optisch zur Bahnhofstraße gehört, adressentechnisch aber unter Puschkinstraße 2 firmiert da der Eingang über diese Seite erfolgt. Besagte Puschkinstraße bzw. ursprünglich Albertstraße können wir auf dem Motiv auch noch nicht erkennen.

Die Abbildung ist nicht gänzlich unbekannt aber selten! Ich glaube, ich habe erst zwei Stücke davon gesehen. Die zweifarbige Version ist seit mehr als 10 Jahren Bestandteil des digitalen Archivs. Die colorierte Fassung hingegen ist frisch eingeflogen und ich hatte nicht damit gerechnet, daß es diese farbige Variante überhaupt jemals gab.
Also zumindest eine kleine Überraschung für mich.

Auch das dritte und letzte Stück für heute entführt uns in die Senftenberger Bahnhofstraße. Diesmal jedoch in einen bislang noch nicht allzu gut dokumentierten Abschnitt und auch in eine deutlich spätere Zeit als die beiden Exemplare oben...

Senftenberg
Verlag: Brückner, Senftenberg
Echt Photo Handabzug
Aufnahme <= 1944
Sammlung Matthias Gleisner
Senftenberg
Verlag von Br. Pulczynski,
Senftenberg, Lausitz
Aufnahme <= 1911
Sammlung Matthias Gleisner
Senftenberg
Das "wann?" ist noch nicht abschließend geklärt. Die zahlreichen Hakenkreuz-Fahnen deuten aber schon an, in welchem Zeitrahmen wir uns bewegen. Der Sinn des ganzen Fahnenauftriebs? Wahrscheinlich "Führers Geburtstag" am 20. April. An diesem Tag im Jahr war flächendeckende Beflaggung angeordnet. Die unbelaubten Straßenbäume könnten halbwegs dazu passen. Ansonsten sehen wir hier sage und schreibe 4 Häuser, die alle aus unerfindlichen Gründen (bis heute!) die Hausnummer 34 tragen. Über eine Länge von 75 Metern! Bahnhofstraße 34, 34a, 34b und 34c.

Mir hat es in diesem speziellen Fall die Nummer 34 angetan, da ich hier eine interessante (Leucht?)reklame erkenne, die ich so noch nie gesehen habe. Und die dabei hilft, das Foto nach unten zu deckeln. Die Reklame für MÖBEL MEYER kann nämlich frühestens ab Spätsommer 1938 dort angebracht gewesen sein. Der Senftenberger Anzeiger lieferte Ende Juni 1938 ein Inserat aus dem hervorgeht, daß der Lauchhammeraner Erich Meyer das in der Bahnhofstraße 34 ansässige Möbelgeschäft Kramer übernommen hat und am 1. Juli ein Möbel-Ausstattungs-Geschäft unter dem Namen "E. Meyer's Möbelhaus" eröffnen würde.

Einige Zeit später erscheint eine weitere Annonce, bei der ich einen kleinen aber wichtigen Textbestandteil markiert habe...

In diesem Zusammenhang möchte ich die Lektüre das nachfolgenden Textes aus dem Senftenberger Anzeiger im November 1938 empfehlen. Nur einer von vielen Artikeln, die die schrittweise Diskriminierung von Menschen jüdischen Glaubens medial befeuerten. Davon finden wir über das ganze Jahr 1938 leider eine ganze Reihe auch in unserer damaligen Lokalpresse. Nicht alle davon werden (wie dieser) bloße Übernahmen aus hauptstädtischen Gazetten gewesen sein...

Die Arbeits- und Lebensbedingungen für Juden verschlechterten sich auch in unserem kleinen Städtchen im Laufe des Jahres 1938 immens. Das Ganze steuerte unaufhaltsam auf die allseits bekannte Katastrophe zu...

Das Möbelgeschäft Kramer - wie auch das gesamte Haus Bahnhofstraße 34 - gehörte dem jüdischen Kaufmann Max Kramer, der eigentlich in Cottbus beheimatet war wo er ebenfalls ein Möbelgeschäft unterhielt. Nach meinen Recherchen gelang ihm noch 1939 die Emigration nach Bolivien. Sein Geschäft in Senftenberg ging ein Jahr zuvor (siehe oben) sicher zu fabelhaften Konditionen an an den "Arier" Erich Meyer.

Im Haus Nr.34 befand sich ursprünglich noch ein weiteres Geschäft. Das Spezial-Betten-Haus von S.Margulies... Samuel Margulies um genau zu sein. Dessen Portfolio bot sicher eine gute Ergänzung zu den Möbeln von Max Kramer. Vielleicht standen sich die beiden Kaufleute - nicht zuletzt aufgrund ihres gemeinsamen Glaubens - auch persönlich nahe. Wir wissen es nicht! Auch nicht, was aus Samuel Margulies' Geschäft und ihm selbst und seiner Familie wurde.
Wenn ich die Schaufenster auf dem Foto so betrachte, könnte es durchaus sein, daß Meyer schlußendlich das komplette Parterre des Hauses für sein Möbelgeschäft in Beschlag hatte...

Ganz oben fiel schon einmal der Name Nathan Klein. Auch er musste zwangsläufig sein Geschäft in der Bahnhofstraße 23 auf- bzw. übergeben. Dies geschah ebenfalls im Sommer 1938...

Das weitere Schicksal Nathan Kleins (* 11.01.1871) ist rudimentär durch die AG "Stolpersteine" aufgearbeitet worden. Demnach gelang es ihm am 20. April 1939 nach Palästina auszureisen. Er lebte dort zunächst in Haifa und danach in Tel Aviv. Hier starb er am 18. März 1944.

Seine Nichte Ernestine Grünzeug, die einige Zeit bei ihrem Onkel Nathan Klein lebte und in dessen Geschäft arbeitete, hatte dieses Glück nicht. Sie bemühte sich 1939 vergeblich um eine Ausreise nach Holland, zog dann zu ihrer Schwester nach München. Von dort wurde sie im April 1942 nach Piaski deportiert. Ihr Todesdatum und ihr Todesort sind nicht bekannt.

Die Informationen zu Ernestine Grünzeug wurden ebenfalls durch die AG "Stolpersteine" recherchiert. Demzufolge soll sie im Zuge des November-Pogroms in Senftenberg durch die lokale SA misshandelt worden sein. Man legte ihr eine Drahtschlinge um den Hals und zog sie bis auf den Markt.
Ich möchte diese Beschreibung weiß Gott nicht abstreiten. Was ich jedoch nicht für stimmig halte, ist die Aussage, daß in dem Zuge (also im November 1938) die SA Feuer im Textilgeschäft von Nathan Klein legte. ... Zu diesem Zeitpunkt hätten die braunen Horden aber schon Feuer beim "Arier" Alfred Ihling legen müssen...

Mir liegt tatsächlich nichts ferner als die verbrecherischen Taten der Deutschen - egal ob politisch, religiös, militärisch oder durch die zivile Bevölkerung - während der Zeit des Nationalsozialismus irgendwie klein zu reden. Das muß meiner Meinung nach alles dokumentiert werden. Aber es sollte auch in sich schlüssig und widerspruchsfrei sein um notorischen Zweiflern und Verharmlosern, Geschichtsverdrehern und Leugnern nicht ungewollt in die Karten zu spielen.
In vorliegendem Fall ist es durchaus möglich, daß die Brandschatzung bei Nathan Klein, an die sich die Zeitzeugin erinnerte, bereits zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hatte.

Um den Kreis zu schließen noch einmal zurück zu der letzten Ansichtskarte. Von dieser Art verfügen wir über einige. Technisch stellen sie so ein bisschen den Nadir der Senftenberger Ansichtskarten dar. Ich vermute, daß sie sämtlichst aus Anfang der 1940er stammen und so weit ich mich erinnere, war bislang kein Exemplar, das ich in die Finger bekam, postalisch gelaufen.