Neues 206 - 2015-12-13

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Matthias
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Neues 206 - 2015-12-13

Beitragvon Matthias » Sa 12. Dez 2015, 18:55

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Harald
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Re: Neues 206 - 2015-12-13

Beitragvon Harald » So 13. Dez 2015, 11:28

Klettwitzer Str_resize.JPG
KINDHEITSERINNERUNGEN

„Klettwitz“ - erwiderte verschmitzt lächelnd ein Abc-Schütze, als ich ihn einmal bat, mir seinen kürzesten Schülerwitz zu erzählen. Kein Witz ist dagegen, dass dieser Ortsname, als ich so alt war wie besagter Schüler, mein kindliches „Weltbild“ prägte.
In meinem Heimatort Senftenberg-West weckte nämlich die
KLETTWITZER STRASSE in mir das Gefühl von „sehr weiter Ferne“, obwohl man auf ihrem harten Kopfsteinpflaster den Zielort KLETTWITZ in gerade mal einer halben Stunde per Fahrrad erreichen konnte.
Diese Straße durchzog schnurgerade den Ort und am Scheitelpunkt, dem Paradiesberg, erhob sich einst ein weithin sichtbares Wahrzeichen, der 1914 errichtete Bismarckturm. Heute endet die Straße abrupt an einer ehemaligen Tagebaukante, da in den Jahren 1958 bis 1961 der gesamte Paradiesberg durch den Aufschluss des Tagebaus Meuro verschwand. Von dort oben konnte man sich einst per Fahrrad bis zum Bahnhof SENFTENBERG-WEST rollen lassen. Dies war aber nur dann von Erfolg gekrönt, wenn man nicht auf der holprigen "Katzenkopfpflaster-Magistrale" radelte, sondern den Gehsteig benutzte, der aus fest getretenem Sand plus Kohlenstaub bestand, wobei man natürlich auf plötzlich auftauchende Fußgänger einschließlich deren Wutäußerungen gefasst sein musste.

Nach dem ich von 1950 bis 1958 meinen täglichen Schulweg nach HÖRLITZ auf Schusters Rappen zurücklegen durfte, bekam ich für den Übergang zur Erweiterten Oberschule mein erstes Fahrrad geschenkt und fuhr damit täglich bei Wind und Wetter die Strecke Wredestraße bis zur EOS "Walther Rathenau" nach SENFTENBERG und zurück.
Auf der Hinfahrt war man in ständiger Eile, gepaart mit der Angst vor Verspätung, und so blieb erst auf der Rückfahrt Zeit für einen Rundumblick vom hohen Stahlross.

Klettwitzer Str. gesamt.jpg

Die Karte zeigt die KLETTWITZER STRASSE in gesamter Länge, beginnend am sogenannten KREUZCHEN, benannt nicht nach der dort befindlichen Straßenkreuzung, sondern nach einem dort aufgestellten Sühnekreuz. Von dort aus zog sich schier endlos die mit uralten Eichen gesäumte Teer-Chaussee und war bis zum "geheimnisvoll anmutenden", an der Einmündung der EISENBAHNSTRASSE stehenden WASSERHÄUSCHEN, stets der langweiligste Abschnitt der Heimfahrt. Unmittelbar dahinter sah man dann rechterhand die Ruinen der alten Brikettfabrik ELISABETHGLÜCK, die schon von Grün überwuchert waren. Dieses Areal gehörte eigenartigerweise nicht zu unseren Lieblingsspielplätzen, was ganz sicher daran lag,
dass unsere Altvorderen uns ständig vor den in Ruinenlandschaften ev. noch vorhandenen Blindgängern aus der Kriegszeit warnten. Nach dem beschrankten, dennoch unfallträchtigen, weil s-kurvigen Bahnübergang lag linkerhand das kleine, von Fliederbüschen umrahmte Stationsgebäude, liebevoll BAHNHOF genannt . Vor Inbetriebnahme der Stadtbus-Linien war die Fahrt mit dem Personenzug, im Volksmund SCHIPCHEN genannt, die einzige Verbindung zur "großen, weiten Welt" zwischen den Hauptbahnhöfen Senftenberg und Finsterwalde.
Nach Passieren des "Verkehrsknotenpunktes" öffnete sich endlich der Blick in die
INDUSTRIE~ UND GESCHÄFTSWELT
der KLETTWITZER STRASSE,
beginnend mit >Tischlerei & Sarglager Raack< auf der linken Straßenseite. Hier hatten sich meine Großeltern ihr allererstes, rustikales, eheliches Schlafzimmer bauen lassen.
Danach folgten die beiden "Großunternehmer" - rechts das >Glaswerk Seidensticker<, welches neben diversen Flaschen, Gläsern, Lampenschirmen & Gärballons für die Hausweinherstellung auch Glaskugeln für die Netze der Hochseefischer produzierte.
Gegenüber stand das größte Gasthaus des Ortes, der >Reichsadler< mit angrenzender >Fleischerei<, die beide vom Familienimperium LIESKE bewirtschaftet wurden, nach dem Krieg aber geschlossen blieben. (Hierzu wird bei passender Gelegenheit noch ausführlich zu berichten sein)

Milch-Sprieß & Gemüse-Schiller_resize.jpg

Vorbei ging es dann am >Obst~ und Gemüseladen Schiller<, dessen Dreirad-Framo täglich auf Achse war, um vor allem Kartoffeln, Kraut & Rüben heranzukarren und dem >Molkereigeschäft Sprieß<, wo wir Kinder täglich unsere Milchration in familieneigenen Kannen holten und selbige auf dem Heimweg über den Kopf schwenkten - die Mutigsten versuchten es - nicht immer erfolgreich - auch schon mal ohne Deckel !

Klettwitzer Str. Ausschnitt_resize.jpg

Und just an diesem Geschäft stehend hat wohl der erste Fotograf auf den Auslöser gedrückt und die KLETTWITZER STRASSE in Richtung Paradiesberg fotografiert. Rechts sieht man noch die Einfahrt zur >Brikettfabrik Meurostolln<,
(Kamerastandort rot)
in der auch mein Großvater Zeit seines Lebens gearbeitet hat. Kurz davor das imposante Gebäude der POST, auf der wir privilegierten Briefmarkensammler unsere limitierten "Sperrwerte" der neuen Serien in Empfang nehmen durften. Für meine Generation war es eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen - inzwischen hat sie absoluten Seltenheitswert.
Linkerhand ist die Einfahrt zum >Gasthof zur Eiche< zu sehen, daran anschließend die >Fleischerei Begander<, wo man alljährlich zu Weihnachten nach den begehrten Rindsrouladen anstehen musste. Anschließend >Bäcker Krauspe<, zu dem wir unseren daheim gekneteten Stollenteig brachten, um nach geraumer Backzeit die köstlichen Braungebrannten wieder abzuholen. Gegenüber steht die ehemalige >Volksschule II<, die einst meine Mutter besuchte, und 20 Jahre später ich - da war im Gebäude allerdings nur noch der >Kindergarten< untergebracht.
Gleich dahinter ging es hinein in die WREDESTRASSE (Kamerastandort blau) mit den Hausnummern 1 bis 13. In der Nummer 5, wo sich vor dem Krieg die Betriebskantine befand, wohnte ich mit meinen Großeltern - 50 m von der Fabrik entfernt - mehr brauche ich wohl nicht zu sagen...
Auf der Postkarte sieht man am rechten Bildrand noch ein langgestrecktes Gebäude. Hier war das unter Kindern beliebteste "Warenhaus" untergebracht, die >Kolonialwarenhandlung Lau<, in der man eigentlich all das erhielt, was das Herz begehrte.
Uns reichte ja oft schon, nur mal das bunte Warensortiment mit neugierigen Blicken in Augenschein zu nehmen:
überseeische Genussmittel, wie z. B. Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee, dazu Grundnahrungsmittel und auch Seife, Waschmittel, Petroleum und anderen Haushaltsbedarf. Mein Opa kaufte hier regelmäßig seinen Hanewacker-Priem, Oma Leinöl und Sternchen-Zwirn und ich Kitifix-Kleber für meine Bastelarbeiten - 50 Pfennig die Tube...weiß ich noch wie heute.
Auf dem Weg in Richtung Paradiesberg zum >Lebensmittelgeschäft Reier< passierte man links noch die >Fleischerei Moch<, "Lebensmittelhandlung Lehniger< und den >Friseur Ruprecht< sowie rechts das >Textilgeschäft Ginter<.
Ihnen wird sicher aufgefallen sein, dass die Anzahl der Geschäfte,
allein in der KLETTWITZER STRASSE des ehemaligen SENFTENBERG II (später WEST), im Vergleich zu heute unvorstellbar groß war. Ehrlich gesagt, hat man den vereinten Ort HÖRLITZ betr. Grundversorgung der Bevölkerung nach der Wende nahezu vollständig abgehängt.
Traurig, aber wahr - leider !
Was bleibt, sind die schönen Kindheitserinnerungen, das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, an denen ich Sie heute teilhaben lassen wollte...

Katzenkopfpflaster_resize.jpg


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