25.06.2023

Verlesesaal??? Ich gebe zu, ich tat mich eine Weile schwer mit dieser Beschreibung der Szenerie, die man auf rechts dargestellter Ansichtskarte findet. Ein Schreibfehler? Sollte das vielleicht Vorlesesaal heißen? Immerhin sitzen die Arbeiter auf dem Foto wie andächtige Zuhörer auf ihren Bänken.
Bevor ich aber zu des Rätsels Lösung komme, zunächst einmal die korrekte Verortung der Räumlichkeiten, die sich auf Basis eines Grundrisses der Verwaltung auf Grube Marga relativ leicht gestaltet. Ich habe die Position und die Blickrichtung des damaligen Fotografen nachfolgend signalrot eingezeichnet.

Senftenberg
Verl. d. Ilse-Wohlfahrtsgesellschaft m.b.H.,
Grube Ilse
Aufnahme <= 1914
Sammlung Detlef Krumm

In der Zeichnung selbst wird die Räumlichkeit als Zechensaal (für 160 Sitzplätze) deklariert. Der Begriff "Verlese" fällt an dieser Stelle nicht. Dafür an anderer in derselben Quelle:

Die Kontrolle der Anwesenheit der Arbeiter im Betriebe kann auf verschiedene Weise durchgeführt werden. Auf kleinen und kleinsten Werken stellt man zu Anfang der Schicht durch Verlesen fest, ob die Leute pünktlich zur Arbeit erscheinen und am Schichtschluß, ob jemand vermißt wird. Auf größeren Werken wird die Kontrolle der Arbeitszeit gewöhnlich dadurch ausgeübt, daß die Leute am Werkseingang zu Beginn der Schicht eine Blechmarke mit ihrer Nummer entnehmen und deise am Schluß der Arbeitszeit wieder abgeben. Auch kommt die Kontrolle mittels Karten vor, die am Werkseingang durch einen selbsttätigen Kontrollapparat einen Zeitstempel erhalten.

Eine ähnliche Passage fand ich auch in der "Betriebsordnung für die Senftenberger Kohlenwerke A.G. - Gruben Meurostolln und Elisabethglück, Senftenberg II". Hier heißt es unter §5:

Die Arbeiter sind verpflichtet, sich bei Beginn der Arbeit anzumelden und nach Beendigung der Arbeit abzumelden. Die An- und Abmeldung erfolgt entweder durch Verlesen, durch Marken oder ähnliche Kontrolleinrichtungen. Jeder Arbeiter hat die eingeführte Kontrolleinrichtung zu benutzen.

Alles klar! Damit ergibt sich ein Bild. Verlesen wurden also die Namen der Arbeiter. Diese hatten daraufhin ihreseits ihre Anwesenheit laut und vernehmlich zu bestätigen. Sowohl vor Antritt der Schicht, wie auch nach deren Beendigung. Ersteres um herauszufinden, ob die Mannschaft auch vollzählig angetreten und nicht irgendwer "blau" machte. Letzteres um festzustellen, ob nicht während der Schicht jemand "abgängig" war. Entweder durch unerlaubtes Entfernen vom Arbeitsort oder aufgrund eines möglicherweise noch nicht einmal bemerkten Arbeitsunfalls.

Was Arbeitsunfälle anbetraf, so passierten die in der Tat ziemlich häufig. Und damit sind nicht nur irgendwelche Beulen oder verstauchten Füße gemeint. Das ging teilweise schon sehr heftig zur Sache. Bis hin zu Todesfällen. Unter Tage in den Tiefbaustollen, über Tage im Zusammenhang mit Rutschungen oder Kollisionen im Zugbetrieb. Auch die Arbeiter in den Brikettfabriken lebten durchaus gefährlich. Kontakt mit beweglichen Maschinenteilen, elektrische Unfälle oder gar Verpuffungen mit anschliessendem Schadensfeuer. Die Palette der möglichen Gefahrenquellen war groß und mannigfaltig.

Einen seltenen Blick in die Brikettfabrik der Grube Marga erhalten wir auf rechts dargestellter Fotopostkarte. Okay, ich bin mir ziemlich sicher, daß es Marga ist obwohl die Innenaustattungen der einzelnen Fabriken damals sicher sehr ähnlich, wenn nicht gar identisch waren. Die bekannten Innenansichten der Marga-Fabriken, und speziell die mit den Brikettpressen weisen deutliche Parallelen auf. Und die Karte wurde von Grube Marga verschickt. Eigentlich eindeutige Indizien für (m)eine korrekte Verortung.

Der Absender der Postkarte vermerkte darauf: das ist meine Presse 18 + 19 Hoch- und Niederdruck, 2 Ventile oben, 2 unten. Zumindest die erwähnte 18 erkennen wir auf dem Gehäusedeckel. Die zusätzliche Angabe "19" bei gleichzeitiger Verwendung des Singulars "Presse" im Kartentext könnte darauf hindeuten, daß es sich um eine Zwillingspresse handelt(e). Ich bin dafür aber nun wahrlich kein Experte.

Senftenberg
Aufnahme <= 1918
Sammlung Matthias Gleisner
Nach den beiden (eher seltenen) Innenansichten aus dem Verwaltungsgebäude sowie der Brikettfabrik folgen noch zwei Außenansichten, die wir so oder so ähnlich schon mehrfach gesehen haben...

Senftenberg
Verlag Erich Krause, Senftenberg.
5755
Aufnahme <= 1912
Sammlung Detlef Krumm
Senftenberg
Aufnahme <= 1920
SLUB Dresden / Deutsche Fotothek
Senftenberg

Jeweils aus süd-östlicher Richtung aufgenommen, erhalten wir einen Blick auf das Zechenhaus, die Kraftzentrale und die beiden Brikettfabriken der Grube Marga. Das rechte Motiv ist auch von einer Ansichtskartenproduktion bekannt. Hier und heute, quasi die Ausgangsfotografie. Abgenommen von einem Glasnegativ.