19.12.2021

Seit Mitte April diesen Jahres ist Senftenberg nicht mehr in altbekannter Weise aus nordöstlicher Richtung erreichbar. Die Bundesstraße ist aufgrund kaum sichtbarer Risse in der Fahrbahndecke vollständig gesperrt. Aktuell ist es völlig unklar, wann die Strecke wieder freigegeben wird und wer überhaupt für den Schaden verantwortlich ist. War man zunächst davon ausgegangen, daß ehemalige Entwässerungsstollen, die aus Zeiten des Tagebaus Ilse-Ost stammen und die weder auf Karten verzeichnet noch ordentlich verfüllt worden waren, die Ursache für den oder die Risse seien, stellt sich neuerdings die Lage so dar, daß es sich wohl um ein straßenbauliches Problem handelt. Und nun schiebt einer dem anderen den schwarzen Peter zu und es geht gefühlt nicht voran. Alle, die zu DDR-Zeiten über die Autobahnen der Republik gefahren sind, haben für ein derartiges "Problem" nur ein ganz müdes Lächeln übrig, aber es hilft nichts: jeder der aus Cottbus kommt bzw. dorthin will, muß seit Monaten eine längere Umleitung in Kauf nehmen. Diese führt notgedrungen über den nördlichen Ausfall aus bzw. in die Stadt.
Und das was der Autofahrer, der über diesen Weg Senftenberg erreicht, als erstes erblickt, das sieht annähernd so aus, wie auf dieser Ansichtskarte...
Das Motiv ist nicht neu. Ich stellte in der Vergangenheit bereits zwei Varianten davon vor, die ich für die Ur-Versionen halte. Dem Gesetz der Serie zufolge existierte auch noch eine zweifarbige Produktion des Zweitverwerters aus Breslau. Ich glaube sogar, eine solche schon einmal in meinem Dunstkreis gesehen zu haben aber irgend etwas war damit, so daß ich sie aktuell weder physisch noch digital vorliegen habe. Kommt aber bestimmt noch. Irgendwann.

Die Häuser, die man auf der Ansichtskarte erkennen kann, existieren heute noch. Bezüglich des Hauses ganz links benötigt man aber mittlerweile etwas Fantasie. Das Gebäude wurde massiven Veränderungen unterzogen wie ein aktuelles Vergleichsfoto zeigt...

Senftenberg
Graph. Verl.-Anst., G.m.b.H., Breslau
28075
Aufnahme <= 1909
Sammlung Matthias Gleisner
Senftenberg Senftenberg
Meiner Meinung nach haben die Um- und Anbauten dem Haus optisch sehr geschadet. Mir persönlich gefällt die Variante aus dem Jahr 1908 wesentlich besser.
Tatsächlich gehe ich davon aus, daß das Ansichtskartenmotiv 1908 entstand. Dies schließe ich unter anderem aus den Verlegerangaben, die man auf den Ur-Versionen des Magdeburger Verlags Reinicke & Rubin finden kann.
Zu dieser Zeit (man erkennt es mit scharfen Augen) residierte in dem Laden im Erdgeschoss des Hauses ein Kaufmann namens Eduard Fiebig. Er war gleichzeitig Eigentümer des gesamten Gebäudes. Leider konnte ich noch nicht ermitteln, welche Art von Geschäft Fiebig damals dort betrieb. Es kann jedenfalls nicht sonderlich erfolgreich gewesen sein, denn Mitte 1908 inserierte er im Senftenberger Anzeiger wie folgt...

Senftenberger Anzeiger (25. Juni 1908)
Die Anzeige verhallte ohne nennenswerte Reaktion des Publikums, weshalb Fiebig Mitte September 1908 eine weitere Stufe zündete und gleich das ganze Haus zur Pacht bzw. sogar zum Kauf anbot...

Senftenberger Anzeiger (12. September 1908)
Dieses Inserat muß dann irgendwann in den nächsten Wochen oder Monaten erfolgreich gewesen sein. Das beweist uns die rechts abgebildete Fotopostkarte aus dem Jahr 1909.
Nicht nur, daß wir hier erstmals das Haus in seiner ganzen ursprünglichen Gestalt frontal sehen, nein auch das Ladenschild hat sich geändert. In welcher Beziehung das auf dem Gehweg aufgestellte Personal mit dem Gebäude stand, darüber gibt der umseitige Kartentext leider kein Auskunft. Daß die Leute etwas damit zu tun hatten, dürfte eigentlich Konsens sein. Man ließ sich damals nicht vor fremden Häusern fotografieren!

Na gut, die "Zaungäste" rechts hatten vielleicht nichts mit dem Gebäude zu tun aber sehr wahrscheinlich handelt es sich bei dem Paar auf dem Balkon um das Ehepaar Fiebig, denn auch wenn mittlerweile ein abweichender Name über dem Ladengeschäft prangte, Fiebig wurde auch noch fünf Jahre später als Eigentümer des Hauses geführt.
Vermutlich nutzte der dort genannte Tischler Max Runge den Fiebigschen Laden als Verkaufsbüro. Denn eigentlich hatte sich Runge erst Ende 1907 ganz in der Nähe, in der Kurzen Straße 3, sesshaft gemacht und es bestand demzufolge kein plausibler Grund nach so kurzer Zeit, die nur wenige Meter entfernte, Lokation schon wieder aufzugeben.

Senftenberg Anzeiger (24. November 1907)

Meine Theorie wird dadurch gestützt, daß Max Runge im Einwohnerbuch 1914 immer noch an der Kurzen Straße 3 geführt wurde. Danach zog die Tischlerei Runge aber durch die halbe Stadt (1922: Calauer Straße 7, 1927: Fichtestraße 10). Ab Mitte der 1930er Jahre dann schon unter dem Nachfolger Karl Runge. Nach dem Krieg verliert sich irgendwie die Spur.

Senftenberg
Ansichtspostk.-Fabr. u. Photo-Kunstanst.
K.W. Peter, Bautzen.
Aufnahme <= 1909
Sammlung Theodor Restel